Erziehung - ein Seiltanz?

Nützen sie überhaupt etwas, die Erziehungsbücher und Elternkurse? Oder bringen sie blosse Theorie, die mehr verwirrt als hilft?

Ein Erfahrungsbericht

Da steht zum Beispiel der Bestseller von Thomas Gordon in meinem Regal. "Familienkonferenz". Wer kennt den Titel nicht! Schon vor Jahren habe ich das Buch gekauft und sofort, noch auf dem Heimweg, mit dem ersten Kapitel begonnen. Und kaum waren unsere Pampers-Helden am Abend im Bett, vertiefte ich mich erneut ins Buch.

Erste Schritte

Ich spürte, hier war eine gute Spur für mich, hier kamen Probleme zur Sprache, mit denen ich allein nicht fertig wurde. Von alltäglichen Machtkämpfen war die Rede, wie ich sie schon von unserem blondgelockten kleinen Sohn gewöhnt war. Bei diesen alltäglichen Zusammenstössen hatte ich mich halt irgendwie gewehrt, mit Tricks, Ablenkung und Ausweichmanövern. Oder auch mit Schimpfen, Strafen und Belohnen. Wohl war mir nicht dabei. "Ach Quatsch. Solche Erziehungsbücher nützen doch nichts!", belehrte mich ein Gast, der die "Familienkonferenz" auf dem Küchentisch entdeckte. "Bei Kindern verlässt man sich doch aufs Gespür!" Ich starrte bewundernd auf den gestandenen Vater mit Vollbart. Toll. Nur etwas machte mich stutzig: Warum lächelte seine Frau so zynisch? Hatte sie etwa Erziehungsbücher gelesen, heimlich? Oder hatte er gar nie mitbekommen, dass ihre gemeinsame Tochter ihre Turnsachen im Hausflur liegen liess, die Aufgaben vergass und stundenlang das Telefon blockierte und und und?

Plumps!

Dennoch, die Bemerkung verunsicherte mich. Ich musste zugeben, dass ich meine neue Aufgabe nicht im Griff hatte. Im Gespür hatte ich einzig noch Erinnerungen an meine eigene Kindheit. Nicht nur gute Erinnerungen! (Wie waren wir doch schüchtern, ängstlich und brav!) Und im Kopf hatte ich die Aufbruchstimmung der 70er Jahre, die Bilder von lustig geschminkten Kindern in Latzhosen, die endlich, endlich munter, laut und frech sich nach Lust und Laune austoben durften. Auch meine Kolleginnen lebten diesem Ideal nach und gewährten ihren Kindern grösstmögliche Freiheit. Aber ich war nicht glücklich damit. Ich stellte schon bald entsetzt fest, dass um die kleinen Freiheitskämpfer mein eigener Freiraum bedenklich schrumpfte.

Aufrappeln

In dieser Beziehung gab mir die "Familienkonferenz" neue Impulse. "Eltern sind Menschen, keine Gottheiten", las ich da. Das entspannte mich. Durch das ganze Buch zog sich der Grundgedanke, dass in einer Familie alle, Kinder und Eltern, das Recht haben auf die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Gordons Ziel ist ein faires Zusammenleben, gegenseitiges Verstehen und Achten. Bei Konflikten gilt es Lösungen zu finden ohne Verlierende. Dieser Gedanke packte mich. Den verstand ich sofort. Aber die Umsetzung der Idee, die hatte ich nicht im Gespür. Auch nach der Lektüre des Buches nicht. Nun hatte ich erst eine Ahnung davon.

Gymnastik

Jahre später - die Stimmen der Söhne waren noch kräftiger geworden, und schlauer wurden die Bürschchen - ging mir in einer besonders turbulenten Zeit die Kraft aus. Bei den Machtkämpfchen hatte ich keine Chancen mehr. Die energiegeladenen Sprösslinge hatten stärkere Nerven... "Konfliktlösungen ohne Verlierende", plötzlich ging mir der Satz wieder durch den Kopf, als tiefer Wunsch. Und als ich die Ausschreibung eines Gordon-Kurses entdeckte, meldete ich mich sofort an. Ich war zwar skeptisch nach all meinen Erfahrungen. Lassen sich Machtkämpfe wirklich vermeiden? Suchen lebhafte Kinder nicht einfach täglich harte Auseinandersetzungen? Schliesslich sass ich fünf Abende lang in einer Elternrunde. Ich staunte jedesmal neu: Drei Stunden lang arbeiteten wir konzentriert zusammen, diskutierten, übten spielerisch längere Gesprächsabläufe und ehrliche Ich-Botschaften. "Ich wusste gar nicht, dass Erziehen so schwierig ist", seufzte einmal eine Teilnehmerin erfrischend spontan. Offensichtlich hatte auch sie, eine herzliche, einfühlsame Frau, den Umgang mit ihren Kindern nicht einfach im "Gespür". Wie ich und viele andere kam auch sie an Grenzen und stolperte im Alltag. Ich fühlte mich verstanden.

Balanceübungen

Am meisten zu reden gab Gordons Methode, durch sogenanntes "aktives Zuhören" den versteckten Problemen der Kinder auf die Spur zu kommen. Dass verständnisvolles Hinhören ohne billige Besänftigungen, Belehrungen oder voreilige Ratschläge ein wütendes oder schmollendes Kind am meisten beruhigt, leuchtet ja ein. Aber wie bleiben Eltern in hektischen Alltagssituationen gelassen? Wie schaffen wir es, vor lauter Hinhören nicht unsere eigenen Bedürfnisse aus den Augen zu verlieren? Wir übten, übten. Manchmal kam ich mir vor wie eine Artistin bei ihren ersten Schritten auf dem hohen Seil. Ich verlor die Balance. Wirklich, das Zusammenleben mit Kindern, ja auch mit Erwachsenen, ist ein Seiltanz! Am Ende der ersten fünf Kursabende war ich denn auch recht erschöpft und froh über eine längere Pause.

Springen, tanzen, ruhen

Tja, und jetzt, was ist von dieser Elternschulung geblieben? Ist die Theorie ins Gespür gerutscht? Ganz klar, so schnell geht das nicht. Aber ich habe grundsätzlich eine andere Einstellung zu den Kindern bekommen. Längst will ich sie nicht mehr zurechtformen. Ich suche den Austausch mit ihnen, Gespräche, Klarheit über uns alle. Manchmal finden wir auch ganz unerwartete Konfliktlösungen. Aber Abstürze gibt es immer noch. "Die Methode von Gordon ist jetzt für euch wie ein neues Zimmer", hatte uns die Kursleiterin ermutigt. "Im Alltag wird es immer wieder passieren, dass ihr nach den alten, eingeschliffenen Mustern reagiert. Doch wenn ihr darüber unglücklich seid, könnt ihr in dieses Zimmer gehen und euch an eure neuen Möglichkeiten erinnern." Dieses Bild hat sich mir sehr eingeprägt. Ich mag mein neues Zimmer sehr. Ich möchte es noch ausbauen.

 

Barbara Loepfe
Aus der Zeitschrift "frau und familie" 3/99